Ataxie – seltene Bewegungserkrankung betrifft Jung und Alt

Anlässlich des Welt-Bewegungsstörungstags (WMDD) am 29. November informiert die Österreichische Parkinson Gesellschaft (ÖPG) über neue Therapien und Diagnosen bei Ataxie-Patient:innen.

Wer tief ins Glas blickt, erlebt sie vorübergehend auch im alkoholbedingten Rausch: die klassischen Symptome einer Ataxie. Lallen, Gleichgewichtsprobleme und unkoordinierte Beegungen entstehen bei Ataxie, einer Gruppe von seltenen Bewegungsstörungen, die durch eine Störung des Kleinhirns und dessen Verbindungen im Gehirn oder Rückenmark ausgelöst werden. 

Ataxie ist somit ein neurologisches Symptom bzw. eine Gruppe neurologischer Erkrankungen und kann Menschen jeden Alters betreffen. Die Symptome werden oft erst spät oder gar nicht diagnostiziert. Die meisten Formen nehmen über die Jahre zu und können mit starker sozialer Isolation oder Stigmatisierung einhergehen.

Es gibt aber auch Neues und Vielversprechendes zu einigen Ataxieformen aus der Wissenschaft zu berichten: Besonders die Friedreich-Ataxie, eine der häufigsten erblichen Formen, beginnt sehr oft schon im Kindesalter. Die Lebenserwartung ist bei dieser Form deutlich reduziert. 

Die seit 2024 zugelassene neue Therapie Omaveloxolone verlangsamt nun das Fortschreiten dieser Ataxie-Form. Dies bringt neue Hoffnung für Betroffene, deren Lebensqualität bislang primär nur durch physio- und ergotherapeutische Maßnahmen verbessert werden konnte.

Vor Kurzem wurde zudem die genetische Ursache einer erblichen Ataxie entdeckt (FGF14- assoziierte Ataxie oder Spinozerebelläre Ataxie 27b), die oft relativ günstig verläuft aber bisher nicht diagnostizierbar war. Dies ermöglicht nun vielen Menschen im mittleren Erwachsenenalter eine gesicherte Diagnose und erspart weitere Unsicherheit und diagnostische Tests.

Hilfe finden Betroffene in spezialisierten Zentren für Bewegungsstörungen. Link: www.parkinson.at

W„Ataxien sind seltene Erkrankungen, betreffen hauptsächlich die Bewegungsabläufe wie Gehen und Stehen, sie treten – je nach Ursache – meist schleichend auf und bedeuten für Betroffene einen Verlust an Lebenszeit sowie, mit fortschreitendem Alter, an Lebensqualität. Umso wichtiger ist die frühzeitige Diagnose durch molekulare Diagnosesicherung, um entsprechende Therapiemaßnahmen einleiten zu können“, erklären Priv.-Doz.in Dr.in Sylvia Boesch, MSc und OA Dr. Wolfgang Nachbauer, PhD von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck, europäisches Referenzzentrum für seltene Bewegungsstörungen. Beide sind Mitglieder der Österreichischen Parkinson Gesellschaft (ÖPG).

Priv.-Doz.in Dr.in Sylvia Boesch, MSc

Es wird geschätzt, dass alle Ataxien zusammen etwa 1 von 5.000 Menschen betreffen

Der Begriff Ataxie wird zur Beschreibung von Symptomen verwendet. Daneben dient er aber auch zur Bezeichnung einer Gruppe von Erkrankungen. Es handelt sich also nicht um eine spezifische Diagnose, sondern um einen Überbegriff für eine heterogene Gruppe von Krankheiten – die Ataxien. 

Die Ataxien – ganz gleich, ob erblich (hereditär) oder nicht erblich (sporadisch) oder im Leben erworben – sind Erkrankungen des Kleinhirns und seiner Verbindungen, deren Leitsymptom eine Ataxie ist.

Erworbene Ataxien sind sehr häufig toxisch und können beispielsweise durch Alkohol, durch einen Schlaganfall oder infektiös, zum Beispiel durch eine virale Kleinhirnentzündung vor allem bei Kindern, ausgelöst werden.

OA Dr. Wolfgang Nachbauer, PhD von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck

Die häufigste erbliche Form: die Friedreich-Ataxie

Die Friedreich-Ataxie ist eine seltene Erkrankung, jedoch die häufigste unter den erblichen Ataxien. Sie betrifft Frauen und Männer gleich und verläuft unterschiedlich. In Österreich schätzt man, dass ungefähr 100–150 Patient:innen an dieser Erkrankung leiden. Weltweit liegt die Prävalenz bei rund 2–4 Fällen pro 100.000.

Bei der Friedreich-Ataxie kommt es aufgrund eines genetischen Defekts dazu, dass zu wenig Frataxin (ein Protein) produziert wird. Frataxin entwickelt seine Wirkung in den Mitochondrien, das sind die Kraftwerke der Zelle. Betroffene Zellen funktionieren weniger gut und haben weniger Energie.

Die Friedreich-Ataxie beginnt teils bereits im Kindesalter und bleibt dennoch oft lange unentdeckt, da die vielseitigen Symptome weitgehend unbekannt sind. Drei Viertel der Patient:innen sind bei der Diagnosestellung zwischen 5 und 18 Jahre alt. 

Innerhalb von 10 bis 20 Jahren kann die Erkrankung zur Rollstuhlpflichtigkeit führen; die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 37 Jahren. Bei Beginn im Erwachsenenalter unterscheidet sich der Krankheitsverlauf jedoch deutlich. Die Patient:innen zeigen einen langsameren Fortschritt der Erkrankung und sind oft auch bis ins hohe Alter ohne Hilfsmittel oder mit nur geringer Unterstützung gehfähig.

Die Symptome können beispielsweise neurologisch, kardiologisch oder orthopädisch sein

Durch die Unbekanntheit der seltenen Erkrankung und ihrer Symptome suchen Menschen mit Friedreich-Ataxie oft mehrere Jahre nach der Ursache für ihre Beschwerden.
Charakteristische Symptome wie ein unsicherer Gang (Torkeln) oder undeutliches Sprechen (Lallen) werden oft fälschlicherweise als Anzeichen für Alkohol- oder Drogenkonsum gedeutet. In der Schule fallen betroffene Kinder durch ihre Ungeschicklichkeit im Vergleich zu Gleichaltrigen auf. 

Sie sprechen undeutlich und das Schreiben fällt ihnen schwer. Dies kann zu Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung führen. Im Verlauf schreitet die Koordinationsstörung progredient voran, sodass Betroffene meist auf Gehhilfen wie Stöcke, einen Rollator oder später einen Rollstuhl angewiesen sind. 

Zusätzlich treten nicht-neurologische Manifestationen wie eine Herzkrankheit (Kardiomyopathie), Zuckerkrankheit (Diabetes) oder Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung) und Hohlfüße auf. Zur häufigen Stigmatisierung und sozialen Isolation kommen eingeschränkte Berufsmöglichkeiten und Betreuungs- bzw. Pflegebedürftigkeit.
Menschen, bei denen diese Verdachtsdiagnose besteht, sollten an Neurolog:innen oder an eine Ambulanz für Bewegungsstörungen verwiesen werden. Für eine Diagnose wird eine genetische Analyse aus dem Blut durchgeführt, bei der die Anzahl der GAA-Repeats auf beiden Allelen in einem spezialisierten Labor bestimmt wird.

Erste zugelassene Therapie für Friedreich-Ataxie

Omaveloxolone ist das erste Medikament, das in der EU zur Behandlung der Friedreich-Ataxie zugelassen wurde. „Bisher gab es keine Medikamente, um die neurologischen Symptome dieser  Krankheit zu behandeln. Patient:innen mussten auf Therapien wie Physio-, Ergo- und Sprachtherapie zurückgreifen“, erklärt Dozentin Boesch.

Seit Februar 2024 ist Omaveloxolone für Patient:innen ab 16 Jahren zugelassen. In Österreich kann das Medikament seit Mai 2024 nach Einzelfallentscheidung verschrieben werden. 

Basierend auf den Ergebnissen einer internationalen Studie mit Beteiligung der Medizinischen Universität Innsbruck (Zentrum für seltene Erkrankungen, Univ.-Klinik für Neurologie) konnte eine Verlangsamung des Fortschreitens der neurologischen Behinderung, verglichen mit einer Vergleichsgruppe (Placebo), nachgewiesen werden.

Für Kinder unter 16 Jahren gibt es derzeit noch keine zugelassenen Therapien, aber viele weitere Medikamente sind in Entwicklung und geben Hoffnung auf bessere Behandlungsmöglichkeiten in der Zukunft.

Ataxie ist nicht Schwindel – Diagnose und Fortschritte bei Ataxie-Therapien

„Ataxie ist der Überbegriff für zum Großteil ernsthafte Erkrankungen, die nicht mit Schwindel verwechselt werden sollten“, erklärt Dr. Nachbauer. Die meisten Ataxie-Fälle haben nichts mit dem Gefühl von Schwindel zu tun.
Bei Ataxie ist das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen durch Kleinhirnfunktionsstörungen betroffen. Dadurch leiden das Gleichgewicht und die Bewegungskoordination. Beispielsweise haben Betroffene Probleme beim Auf- und Absteigen vom Fahrrad. Auch Augenbewegungen können gestört sein.

Genveränderung als Ursache für eine seltene Form der spät beginnenden Ataxie entdeckt

Lange Zeit blieben viele spät beginnende Bewegungsstörungen, sogenannte zerebelläre Ataxien, ohne eindeutige Diagnose.
Vor Kurzem wurden zwei neue Gene der spät beginnenden Ataxien entdeckt (CANVAS, FGF14- Ataxie), was vielen älteren Menschen eine eindeutige Diagnose durch einen Gentest zu ermöglicht.

Die Ursache der FGF14-Ataxie (oder spinozerebellären Ataxie Typ 27b) ist eine Veränderung in einem Abschnitt des Gens. Das Genprodukt ist für die Funktion von Nervenzellen im Kleinhirn notwendig, insbesondere für die Regulation bestimmter Kanäle in diesen Zellen. 

Die Erkrankung tritt meist ab 40 bis 50 Jahren auf und führt zu einer langsam fortschreitenden Bewegungsstörung, die sich in einem unsicheren Gang, Standproblemen und auffälligen Augenbewegungen – einem sogenannten Down- beat-Nystagmus – zeigt. 

Die Entdeckung dieses Gens bedeutet für die Betroffenen Klarheit und ein Ende von oft jahrelangen diagnostischen Irrwegen. „Erste Beobachtungen zeigen, dass Patientinnen und Patienten in frühen Krankheitsstadien von einem Medikament profitieren könnten, das auf die Aktivität dieser Kanäle wirkt und grundsätzlich bereits erhältlich ist. Diese positive Wirkung wird derzeit noch in weiteren Studien untersucht, um das Potenzial dieser Therapieform genauer zu bestimmen“, so Dozentin Boesch.

Links: www.i-med.ac.at/neurologie/rare-disease-centerwww.parkinson.at 

Selbsthilfegruppe für Betroffene der Friedreich-Ataxie (FA): www.friedreich-ataxie.at

Dachverband für Selbsthilfegruppen und Patient:innenorganisationen im Bereich seltener Erkrankungen:
www.prorare-austria.org

Erklärvideo Ataxie Biogen: https://shorturl.at/SzzyA

Fotos: ÖPG, LightField Studios/Shutterstock

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